Montag, 28. Mai 2012

Alt werden und Alt sein

Wie kann ein Tag werden, der morgens bereits an der Bushaltestelle mit einem sich an jeder Frau schubbernden, zumindest leicht dementen, Liebhaber laut ausgesprochener Fäkalbegriffe (mein 80jähriger Nachbar) und seiner osteuropäischen, sehr lieben aber verständlicherweise peinlich berührten, Zugehfrau beginnt, die auf dem Weg zum Arzt sind (vielleicht der richtige Weg), und darüber schwadronieren, warum die Hochbahn Hochbahn heißt (sie fährt zwar hoch, aber manchmal auch runter und der Bus ist darüber hinaus ja wohl keine Bahn…)??! Und immer wieder bezieht er mich, als wir im Bus sitzen, ins Gespräch mit ein, wie alle anderen, die im vorderen Teil des Busses sitzen.  Irgendwie hab ich morgens um halb acht da nicht die Nerven für, insbesondere nicht mit der Aussicht mich mindestens die nächsten acht Stunden beruflich ebenfalls mit dem menschlichen Elend auseinandersetzen zu müssen. Und dann zum Feierabend klingelt bald wieder über mir wohnende Nachbarin, bei der ich in letzter Zeit mehrmals Einsätze absolvierte, weil sie Kinder in ihrer Wohnung sieht, die ich so gar nicht sehen kann und mir als Beweis das Spielzeug der Kinder reicht, wobei es sich meist um Mülltüten oder getragene feuchte Socken handelt. Das letzte Kind kam aus der Heizung im Bad. Komisch kam ihr das nicht vor, sie fand es komisch und war eher verzweifelt, dass ich das Kind nicht auch sehen kann – so wie die Frau, die sonst immer mit ganz vielen Hunden vor dem Imbiss gegenüber sitzt und die auch nur sie sehen kann, obwohl sie nicht verrückt ist. Und dann erst der Handtaschendiebstahl direkt aus ihrer Wohnung! Sie hielt die Tasche in den Händen, als sie bei der Polizei Anzeige erstatten wollte.
Dennoch versuche ich immer zu lächeln, Verständnis zu haben, anzuhören, Lösungen zu finden, und ich hoffe, dass es das Karma gut mit mir meint, wenn ich altersbedingt schwachsinnig bin (und die Chancen darauf stehen gut, wenn es nach genetischer Disposition geht), dass es dann auch jemanden gibt, der mir wohlgesonnen ist. Denn obwohl alle alt werden wollen, denkt niemand daran, wie es ist, alt zu sein. Es ist unerfreulich. Es ist nicht schick, auch nicht bei den neuen Alten.  Schick wäre, ohne Komplikationen spontan hochbetagt einfach tot umzufallen. Dieses Schicksal ist aber den wenigsten Alten gegönnt. Dank guten Essens und der modernen Medizin leben sie zwar ewig, doch welche Qualität hat dieses Leben? Und wie attraktiv sind Alte noch für andere? Alt sein ist Belastung. Und niemand will gern zur Last fallen. Schlechte Gefühle auf allen Seiten. Bei dem, der Hilfe braucht, und bei dem, der diese Belastung der Pflege(Organisation) jetzt an der Backe hat. Unser Körper ist nun mal nicht für ewiges Leben gemacht. Wir bauen ab. Es geht rückwärts. Bis man irgendwann auf dem Stand eines Säuglings ist, mit dem Unterschied, dass das Potential, welches dem Säugling zur Verfügung steht, mittlerweile aufgebraucht ist.  Alt sein ist nur schick, wenn es keine Probleme bereitet. Die meisten Alten haben eine Menge Probleme. Sie sind krank, haben Schmerzen, sind nicht mehr uneingeschränkt mobil, das Gehirn verwandelt sich zu Mus, die Verwandten, oft die eigenen Kinder, räumen dein Konto leer, das Pflegepersonal pflegt im Minutentakt und den Rest des Tages liegst du in deinem Pflegebett im Altenheim, ohne dass irgendetwas passiert. Die einzige Zuwendung, die du bekommst, ist der Hinweis, dass du nur Müll redest, dass das alles gar nicht stimmen kann. Das kann doch selbst an Dementen nicht spurlos vorbeigehen! Was bleibt übrig von einem Leben? Egal, wie viel du in diesem Leben erreicht hast, wie viele Reichtümer du anhäufst, irgendwann kommt der Punkt, an dem das alles nicht mehr zählt, wo es völlig egal ist. Warum verbringen wir ein ganzes Leben damit Dinge anzuhäufen, die am Ende nicht zählen, von denen wir als Mensch nicht profitieren? Warum machen wir es uns nicht einfach schön, sammeln Erlebnisse und Abenteuer? Die sind zwar irgendwann auch einmal nicht mal mehr blasse Erinnerung, aber bis dahin hat das Leben wenigstens Spaß gemacht, hat uns erfüllt –  und nicht wir haben irgendetwas erfüllt bzw. gefüllt, das auch nichts anderes als ein leeres Versprechen beinhaltet, davor aber goldig glänzte. Und vielleicht führt ein erfülltes Leben wenigstens dazu, dass man keine unangenehme Demente wird, die zu Aggressionen neigt, sondern eine, deren Wunsch nach Eigenständigkeit und Selbstbestimmung zwar nicht mehr entsprochen wird bzw. werden kann, die dabei aber lächelt und Scherze macht.