Samstag, 2. Februar 2013

VerIRRt

Und, was machen Sie so? Dabei zusehen, wie die Wissenschaft sich selbst degradiert und völlig unglaubwürdig macht? Früher hatte es doch wirklich Zugkraft, wenn etwas durch wissenschaftliche Studien belegt wurde. Heute glaube ich keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe oder für deren Ergebnis ich nicht ordentlich bestochen worden bin. Vielleicht wusste ich früher auch einfach noch nicht, wie es läuft. Es ist erschreckend - wie die diesjährigen Grimme-Preis-Nominierungen.
Und Sie? Geht‘s Ihnen gut? Das kann nur ein Irrtum sein! Dem DSM zufolge - der "Bibel der Psychiatrie", wie es kürzlich im SPIEGEL 4/2013 so nett formuliert war - sind wir nämlich alle ein bisschen bluna. Und wer es noch nicht ist, dem oder der kann spätestens mit der neuesten Ausgabe des DSM geholfen werden. Ab Mai ist es soweit. Die neueste Auflage wird vorliegen. Jahrelang hat man an neuesten Störungen gebastelt. Allen, die noch kein ADHS haben, bietet man jetzt zahlreiche Alternativen. Wie wäre es mit einer Binge Eating Störung, Arbeitsplatzphobie oder Hoarding Disorder? Auch nicht? Sie Anfänger! Aber vermutlich trauern Sie länger als zwei Wochen nach dem Verlust eines geliebten Menschen? Na, dann ist doch alles klar! Sie sind geisteskrank und dürfen Pillen schlucken. Herzlichen Glückwunsch; grundsätzlich schon mal an jeden, der demnächst irgendeine Diagnose erhält. Sie können nichts dafür! Sie sind krank! Ach, und meine besten Glückwünsche an die Pharmaindustrie. Ich finde auch, der Gesunde ist einfach nur noch nicht richtig untersucht worden und für jedes Problem gibt es eine Lösung zum Einnehmen.
Ach, wie habe ich die Wissenschaft geliebt und jede meiner Abschlussarbeiten exakt den Standards unterworfen. Ich habe bis zur absoluten Verschmelzung mit dem Thema nächtelang durchgearbeitet, penibel untersucht, dokumentiert, behauptet, belegt und kapiert statt kopiert. Und nun? Lese ich im SPIEGEL, wie angesehene Wissenschaftler sich zu Diagnosen stümpern, um unsterblich zu werden. Und das ist ja erst der Anfang.
Vor einiger Zeit suchte mein Vorgesetzter Freiwillige aus unserem Team, die an einem Forschungsprojekt teilnehmen wollen. Als ich dann noch hörte, dass dieses Projekt von den beiden Professoren durchgeführt werden soll, die ich in meiner Studienzeit als die besten an der ganzen Hochschule wahrnahm, sagte ich begeistert zu. Nach fast einem Jahr Teilnahme ist das Ergebnis lediglich Ernüchterung. Ist die Wissenschaft heutzutage bedeutungslos, weil jeder Wissenschaftler bedeutend sein will, ohne wirklich Bedeutung zu haben oder Bedeutung zu schaffen? In unserem Fall jedenfalls ist überdeutlich, dass hier nur auf den Markt gedrängt wird, weil das Thema gerade up to date ist und man sich unsterblich machen kann. Da ist es zweitrangig, ob gestümpert wird. Hauptsache, es geht schnell und bringt das Ergebnis, welches man für sein Buch, das bald erschienen soll, schon vorformuliert hat. Da sind die Versuchspersonen, inklusive mir, mit ihren Fragen und der ständigen Kritik eher lästig. Da holpert man durch die regelmäßigen Treffen und tut weiter so, als sei keine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit im vorliegenden Konzept festzustellen, auch nicht, als vorgestellt wird, dass die Vorher-Nachher-Vergleiche gar nicht vergleichbar sind, denn die Proben sind nicht mal von denselben Personen. Das ist ja, als sei ich krank und mir wird Blut abgenommen, um in zwei Wochen festzustellen, ob alles wieder in Ordnung ist, schicke ich aber Herrn Müller zur Blutprobe, weil der Termin mir so nicht genehm ist.
In der ZEIT habe ich vor einiger Zeit mal gelesen: "Die Forschung zerlegt die Welt so sehr, dass die Zusammenhänge verloren gehen!" Da muss man sich nicht wundern, wenn keiner mehr den Überblick hat. Das hätte mir eigentlich schon im Studium auffallen müssen, denn wie oft mussten wir Sequenzen auswendig lernen, wie in einer doofen Schule mit Anwesenheitspflicht?! Das habe ich wohl abgespalten und ausgeblendet. (Hallo DSM, gilt das auch als Krankheit, gegen die ein Kraut gewachsen ist?)
Und, war ich zum Ende des Studiums nicht auch - zumindest kurzzeitig - total blind und taub oder einfach nur angenehm gebauchpinselt, als meine Diplomarbeit mit 1,0 bewertet wurde und ich dann das Angebot erhielt, die Ergebnisse meiner Untersuchung in einer Fachzeitschrift zu veröffentlichen?! Als die Professorin mich dann zum dritten Mal bat, Korrekturen am Artikel vorzunehmen und ich bei der vierten Überarbeitung dann das Gefühl hatte, dass weder von meinem Thema  noch der Artikel sonst etwas beinhaltete, wofür es sich zu sterben lohnt oder ich meinen Namen hergebe, sagte ich dankend ab. Das kam nicht so gut an, denn auch sie hätte wohl gern noch einmal ihren Namen als Co-Autorin irgendwo abgedruckt vor der Pension gesehen. Das letzte Mal war schon zu lange her.
Verirrt. Verraten. Verkauft. Ohne meinen Beitrag.