Samstag, 8. Oktober 2011

Rotkäppchen

Schon als Kind hatte ich eine blühende Fantasie. Als meine Mutter mir erzählen wollte, mein Cousin würde am Blinddarm operiert, war ich nicht davon abzubringen, dass ihm der Bauch nur aufgeschnitten würde, weil er Rotkäppchen verspeist habe – was auch nicht ganz abwegig schien, denn mein Cousin war schon eher ein anstrengendes Kind und kurz zuvor hatte er meinen voll funktionsfähigen Kinder-Küchen-Mixer zerstört; da war Rotkäppchen ja nur die logische Konsequenz. Und insgesamt finde ich, ein bisschen Fantasie kann auch nicht schaden, denn dann hätten wir bessere Ideen oder überhaupt welche. Manche Leute haben ja auch heute noch Ideen, aber die sind eher der Kategorie VERZICHTBAR zuzuordnen. Neulich habe ich doch allen Ernstes gelesen, dass es in irgendeiner Firma auf dieser Welt die Pflicht zu einem konformen Haarschnitt gibt. Das heißt, alle Mitarbeiter haben die gleiche versch****** Frisur! Ohne diese Pflicht ist es ja schon eine Belastung, wenn der männliche Haarausfall im Alter beginnt, doch wie belastend muss das für Arbeitnehmer dieser Firma sein? Ist es ein Grund gefeuert zu werden, wenn die eigene Haarpracht für den verordneten Massenhaarschnitt nicht die erforderliche Grundlage bietet? Und ich dachte Montag schon in unserer Dienstbesprechung, ich hätte den dümmsten Satz in puncto Mitarbeiterpflege überhaupt gehört: In anderen Einrichtungen wird darüber gar nicht diskutiert. Wer da nicht mitmacht, kriegt gleich eine Abmahnung! Kommt schon irgendwie doof, wenn alle Leute, die sonst so am Tisch sitzen, unter der Prämisse eingestellt wurden, dass man alles demokratisch beschließen und besser machen wolle, insbesondere mit und für die eigenen Angestellten! Das Leben ist kein Wunschkonzert. Aber neulich hab ich es mir doch gewünscht und hatte die fantastische Idee, dass alle unzufriedenen und verheizten Arbeitnehmer nur einen Tag zu Hause bleiben würden, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Die Masse müsste es doch eigentlich machen. Wenn wir uns nur unserer Macht bewusst wären! Ohne die Millionen Arbeitsameisen auf der Welt, die sich Tag für Tag den Buckel abschuften, könnte doch kein Chef der Welt sein Geschäft aufrechterhalten. Ohne uns wären sie dann nichts, doch wir lassen uns einfach wie Nichts behandeln. Aber warum? Weil alles Geld ist und man dafür auch seine Ideale verkauft – sofern man heutzutage überhaupt in der Kindheit und Jugend die Zeit verschwenden durfte welche auszuprägen?! Denn lernt man nicht schon in der Kindheit, dass der Wert eines Menschen von seiner Leistung abhängig ist? Und die sollte doch bitte schön nicht an eine unbequeme eigene Meinung gekoppelt sein oder irgendein Freizeit- und Erholungsbedürfnis beinhalten. Das Leben ist kein Ponyhof! Geritten wird hier nur zur unterbezahlten Arbeit. Und bloß nicht vergessen: Heutzutage ist immer der einzelne Schuld. Bist du zu dick, ist es Willensschwäche. Nicht erfolgreich? Wohl nicht genug angestrengt. Krank? Dann hast du wohl falsch gelebt. Arbeitslos? Arbeitsfaul. Gerade neulich fragte mich eine Freundin vorwurfsvoll, als ich aus finanziellen Gründen schweren Herzens ablehnen musste, mit nach London zu fliegen: Ja, arbeitest du denn gar nicht mehr an deinen Glaubensmustern?? Selber schuld! Denn das Geld kommt nur zu denen, die daran glauben. So einfach ist das. Aber geht das auch so schnell, wie ihre Empörung es vermuten lässt? Ausgehend von diesem Selber-Schuld-Paradigma ist es wohl logische Konsequenz, dass aus Einzelkämpfern keine Masse mehr wird.
Liebe deinen Nächsten und der ist man zunächst persönlich. Selbst mit viel Fantasie fällt es mir schwer, mir vorzustellen, dass die bunten 60er und 70er Jahre wahrhaft existierten, denn spätestens mit dem Punk in den 80ern ist doch auch die Revolution gestorben – jedenfalls als etwas, das unter der Jugend stattfindet und für Außenstehende wahrnehmbar ist. Der Widerstand besteht heute darin, keine ganzen Sätze mehr formulieren zu können oder diese jeweils mit Alder, Digger oder deine Mudder zu beenden. Die Jugend langweilt mich. Jedes Mal, wenn ich in der U-Bahn sitze und Jugendliche sehe, die punkig oder schrill rumlaufen und ihre Meinung durch Aufnäher und Buttons kundtun, mache ich innerlich einen Freudentanz. Oder Jugendliche, die beweisen, dass sie lesen können – oder bei Jugend forscht teilnehmen, einer Oma den Platz anbieten. Mehr davon! Ich bin auch für mehr denkende Erwachsene. Und vor allem für denkende Studenten, aber die sind ja auch gerade anderweitig beschäftigt und müssen schnell ihren Bachelor oder Master machen. Ist das der Puls der Zeit? Der ist besorgniserregend schwach. Dabei gibt es doch heute mehr denn je zu beanstanden und zu verbessern! Ich bin für mehr Streber! Leute, die weg von Narkose und Konformität streben. Im Moment ist das größte Bestreben ja eher in eine Form zu passen, die einem gar nicht passt. Ich bin für mehr Erfinder! Denn solange wir das Erfinden weiter großen Banken überlassen, die in so mancher Stellenausschreibung im Rahmen der Selbstbeschreibung eine klaffende riesige Lücke zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung erkennen lassen und von sich behaupten, sie bräuchten Leute, die Ideen für Menschen entwickeln, die sich quasi positiv auf die ganze Menschheit auswirken.. Ja, solange wird es langweilig bleiben. Und so lange sind wir alle Rotkäppchen und werden jeden Tag gefressen.