Donnerstag, 13. Oktober 2011

Ich verstehe nur Bahnhof

Nachdem ich ein Vierteljahr nicht mehr nach Hause gefahren bin, trieb mich die Sehnsucht nach Überschaubarkeit und Ruhe doch wieder Richtung Mecklenburg. Sind in MV eigentlich Burn-Out-Fälle bekannt? Ich kann es mir gar nicht vorstellen! Aber das ist wahrscheinlich meiner großstädtischen Versautheit geschuldet, aus der Stadt der Reizüberflutung kommend. Da entwickelt man vermutlich einen verklärten Blick auf die Dinge, so wie ihn manche mittlerweile auf die DDR haben – und der hat meist nichts mehr mit der Realität zu tun. Meine Realität spielte sich sodann auch lediglich im Haus meiner Eltern ab. Ich glaube, ich habe das Haus innerhalb der drei Tage bloß kurz verlassen und das auch nur, um Abfälle auf den Misthaufen im Garten zu bringen. Ja, da gibt es noch Misthaufen. In der Stadt ist auch vieles Mist. Und auch auf der Strecke da heraus und wieder dorthin zurück, insbesondere das Schienenfahrzeug und dessen Drumherum betreffend. Es fängt am Hauptbahnhof meist schon damit an, dass der traditionelle Weg über den Schalter out ist, ich aber zu unterqualifiziert für den Erwerb eines Fahrscheines bei der Deutschen Bahn bin. Seit wann zieht man denn hier Nummern, um überhaupt die Möglichkeit auf visuellen Direktkontakt mit einem echten Menschen zu erhalten? Und wenn man sich diesem aus Frust und Furcht vor langer Wartezeit und Servicegebühren verweigert, bleibt nur einer der zahlreichen Automaten, für dessen Bedienung nicht mal mein Hochschulabschluss ausreicht. Sollte ich es doch schaffen, mich durch die Angebote zu klicken und einen Fahrschein zu bestellen, scheitert der Ausdruck spätestens daran, dass der Automat abstürzt oder sich gerade entschließt, keine Geldscheine mehr anzunehmen. Da ist man dann schon so richtig guter Reisestimmung und will nur noch weg. Die Strecke, die ich gewöhnlich fahre, ist immer gut ausgelastet. So gut, dass man oft stundenlang stehen muss, weil es keine Plätze mehr gibt. Doch dieses Mal hatte ich Glück – oder war einfach nur gut vorbereitet, weil ich eine halbe Stunde vor Abfahrt schon bereit stand zum Drängeln, was mir eigentlich missfällt. Aber seitdem ich sogar von Omas beiseite geschubst werde, fahr ich nun auch regelmäßig meine Ellenbogen aus – meist allerdings nur, um ihnen den Platz, den ich mir gnadenlos erkämpfte, dann später aus schlechtem Gewissen wieder anzubieten. Eigentlich mag ich Bahnfahrten. Ich mag auch den Hauptbahnhof. Ich finde es toll, wie Züge einfahren und wieder abfahren. Logistisch gesehen doch eine gigantische Leistung. Ich bekomme Fernweh, frag mich, wo die Leute hinfahren, wo sie herkommen. Alles ist in Bewegung. Soviel Leben spielt sich am Bahnhof ab, Schicksale, Abenteuer. Schade eigentlich, dass diese Geschichten sich immer nur in Vermutungen erschöpfen und sich lediglich in meinem Kopf abspielen. Denn oft steht oder sitzt man stundenlang nebeneinander im Zug, ohne dass ein wirkliches Gespräch entsteht. Auch bin ich zu gut erzogen, um Leute einfach so auszufragen. Doch manchmal wird man Zeuge kleiner Episoden, die keiner großartigen Interpretation oder keines Kopfkinos bedürfen. Abschiede mit Geheul oder viel Geknutsche. Manchmal auch beides zusammen. Gute Grundlage bieten auch Leute mit Null Schamgefühl, die ihre aktuelle Freundin, die sie am Wochenende das erste Mal flachgelegt haben, im Zug vor versammelter Mannschaft fragen, ob sie eigentlich die Pille nimmt. Oder Mütter, die kennen auch oft keine Scheu und bleiben noch so lange im Zug, bis dieser fast mit der Tochter abfährt. Gerade jetzt zu Semesterbeginn ganz oft der Fall: Mama und Papa bringen die Tochter, die nun zum Studieren nach Rostock geht, mit Sack und Pack und pinker Laptoptasche, in den Zug. Zieh dich warm an. Melde dich um. Vergiss das Essen nicht. Ich freu mich schon, wenn du in zwei Wochen am Wochenende nach Hause kommst. Als ich auszog, hat meine Mutter am selben Tag mein Zimmer komplett ausgeräumt, und als ich das darauffolgende Wochenende zu Besuch kam, war es renoviert, und sie hatte sich ein Büro eingerichtet. Da konnte es wohl jemand kaum erwarten. Infolgedessen hatte sie aber zum Glück auch keine Zeit, mich im Zug mit solchen Ratschlägen vor aller Leute Augen und Ohren zu belegen, so dass sich neben der Enttäuschung vor allem Dankbarkeit darüber in mir breit macht. Zeitweise, als ich noch öfter nach Hause gefahren bin, dachte ich, es sei eine gute Möglichkeit, sich ein Ticket mit anderen zu teilen, um mal mit interessanten Menschen in Kontakt zu kommen. Da ist man dann zumindest für die Fahrt in gewisser Weise aneinander gebunden, doch die Leute, an die ich dadurch gebunden war, wollten nicht sprechen, zumindest nicht über die organisatorischen Angelegenheiten hinaus und nicht mit mir. Fahrkarten teilen, ist dennoch nicht die schlechteste Idee, denn so ist der Stehplatz nicht ganz ärgerlich teuer. Der Preis hat sich für mich und meine Strecke innerhalb der letzten sechs Jahre – jeweils die aktuellen Sparmöglichkeiten einbezogen – verdoppelt. Und auch die Sparmöglichkeiten nehmen rapide ab. So ist es mir bei der Rückfahrt doch wirklich passiert, dass ich ein MV-Ticket kaufte, und der Zug war gerade angefahren, da dröhnte schon eine Information der Zugbegleiterin durch die Lautsprecher, die noch einmal darauf hinweisen wollte, dass Mecklenburg-Vorpommern-Tickets und andere Tickets dieser Art erst ab 9:00 Uhr gelten. Da war es gerade 8:10 Uhr. Seit wann denn das? Muss wohl mit der Einführung der Zerstückelung passiert sein, denn irgendwann war es ja auch nicht mehr möglich, ein Einheits-MV-Ticket zu kaufen, sondern bitteschön auch die mitfahrenden Personen anzugeben und mit jeder Person wurde und wird das Ding noch mal teurer. Ja, nichts ist eben so zuverlässig wie die jährliche Preiserhöhung der Bahn – der Service jedenfalls nicht, denn man bedient und berät sich in der Regel ja selbst am Automaten oder im Internet und ist oft auch bedient und schlussendlich nicht beraten. Was meine Schwarzfahrt angeht, so wird mich diese Geschichte wohl noch eine Weile verfolgen. Ich denke ja heute auch noch an die Ente auf der Alster, die an Silvester 2000 mit Raketen beschossen wurde und um ihr Leben schwamm, und an meine unterlassene Hilfeleistung diesbezüglich. Und nun habe ich auch die Bahn verraten. Da ich für die Rückfahrt keine Mitfahrer fand und ich meine letzten zwanzig Euro für ein Ticket ausgab, das nun nicht gültig sein sollte, pokerte ich hoch und verhielt mich still und unauffällig, als die Schaffnerin den Wagon betrat und fragte: Hier noch jemand zugestiegen? Also, ich nicht. Ich war aber selten so froh, unter höchstem Gedrängel in Hamburg wieder auszusteigen. Und das ist auch etwas, das ich nicht verstehe: Was für ein Wettbewerb ist das eigentlich? Hier hat man den Platz doch schon gehabt??!