Montag, 7. November 2011

Im Fieberwahn und flügellahm

Ein selbstbestimmtes Leben ist für Sie Voraussetzung, sich eins mit sich zu fühlen. Das heißt nicht, zufrieden zu sein. Zufriedenheit klingt nach Stagnation und Passivität - denen weichen Sie mit aller Kraft aus. Unter Lilith und Uranus verspüren Sie die Lust, verrückte Dinge zu tun, Erwartungen zu durchbrechen, und wollen neue Lebensmodelle testen... (BRIGITTE, Heft 23, 19.10.2011)

Danke, Brigitte. Danke, Arztbesuch, denn der hat mir heute zu dieser Erkenntnis verholfen, als ich Stunden im Wartezimmer verbrachte und u. a. mein Horoskop las. Ich wusste doch immer, dass ich für ordinäre Erwerbsarbeit nicht geeignet bin. Dumm nur, dass mein Leben eigentlich nur aus Erwerbsarbeit besteht und ich mittlerweile ohne kaum etwas mit mir anfangen kann. Dank des Arztbesuches muss ich das aber nun, denn ich bin krankgeschrieben. Und weil ich immer eine Aufgabe brauche, mache ich heute Feldforschung: Ich führe heute einfach mal das Leben der Menschen, die ich sonst im beruflichen Kontext betreue. Den ersten Fehler in diesem neuen Leben hab ich allerdings schon gemacht, als ich heute Morgen um halb Sieben aufgestanden bin – das ist Bettzeit. Aber gut, ab jetzt. Als ich von Arzt und Apotheke zurück bin, ist es Zwölf. Was wird um Zwölf im Fernsehen gezeigt? Da ich keine Fernsehzeitung besitze, stürze ich mich unvorbereitet ins Geschehen, und wenn ich nicht schon Fieber hätte, dann würde es jetzt ausbrechen, denn ich werde mit der Sensation des Tages konfrontiert: Die Entstehung der längsten Wurst der Welt – und das alles im Rahmen einer Art von Mittagsmagazin im Privatfernsehen. Das sind also die Sendungen, von denen mir andere sonst immer nur erzählen. Ich wünschte, es würde der Postbote an der Tür klingeln oder ein paar Halloween-Kinder, wie am letzten Montagabend, um Süßes zu erbetteln, obwohl ich nichts im Hause habe. Aber noch saurer kann es ja nicht werden! Die Erprobung neuer Lebensmodelle hab ich mir irgendwie entspannter vorgestellt – eher so, wie das, was der Titel einer Umsonst-Zeitung neulich im Supermarkt versprach: Sonne, Meer und Luxus pur – Yacht-Personal dringend gesucht!

Die Wurst ist wie ein schwerer Unfall, ekelhaft, aber weggucken kann ich nicht. Gut, dass jetzt Werbung kommt und die Programmvorschau. Und ich finde es auch nur konsequent, dass eine Sendung, die von den nervigsten Deutschen handeln soll, auch gleich von diesen moderiert werden wird. Durchdachtes Konzept!

Zwischen Dreizehn und Siebzehn Uhr zappe ich mich durch diverse Comedy-Serien von Kanal zu Kanal, alle dieselbe Handlung bei ausgewechseltem Personal, bedingt lustig. Ich bin erschöpft und schlafe ein, um dann gegen halb Neun den krönenden Abschluss erleben zu dürfen. Die Kamera hält drauf, auf den Arschloch-Mann und die Ganzkörperoperierte, die sich permanent von ihm runtermachen lässt, und von denen man mir folgendes weißmachen will, nämlich, dass sie A) prominent sind und total wichtig, zumindest so, dass es für diese Reality-Show reicht, B) überaus vermögend sind und deshalb ganz viel in den Urlaub fahren müssen, was aber purer Stress ist und die Frisur ruiniert, und dass man im Urlaub auch verarscht wird, wenn man reich ist und C), dass ich mich dafür interessieren müsste... und dass die Großbildfernseher im Discounter kaufen und er zu Hause nicht mit seinem Personal spricht, aber auch nicht von ihnen angesprochen werden will. (Vor diesem Hintergrund und in Bezug auf den eben von mir geäußerten Wunsch… - Ich glaube, ich wäre dann doch lieber die, die das Yacht-Personal sucht!)
Ich frage mich erst gar nicht, warum die beiden ein Paar sind, denn offensichtlich sind sie nicht in inniger Freundschaft und Liebe verbunden. Und ich bin jetzt auch nicht mehr verbunden – jedenfalls nicht mit der Fernsehwelt. Das ist nicht mein Lebensmodell. Aber es wäre ja auch schlimm, wenn ich mal zufrieden wär. Dann hätte ich ja nichts mehr zu tun.