Montag, 1. August 2011

Hausfriedensbrecher

Ich gebe zu, ja, es stimmt: Ich bin behindert. Obwohl ich eine Frau bin, wollen sich mir sogenannte Frauenzeitschriften einfach nicht erschließen. Geballte Werbung und dafür zahlen? Nee, danke. Auch die Begeisterung für Klatsch und Tratsch will sich bei mir einfach nicht einstellen, so verstehe ich auch Oh, die Polen, anstatt Dieter Bohlen. Während meine Freundin neben mir aufspringt und ihm schon folgt, da denke ich noch darüber nach, was genau an diesen Polen so besonders ist und vermute ihre Heimatverbundenheit dahinter, bis auch ich ihr folgend sehe, dass wir hinter Herrn Bohlen herlaufen, der kurz darauf aus dem Blickfeld verschwindet, in dem er in ein Riesengefährt steigt und davon braust. Wofür ich sonst nicht zahle, bin ich nun gelaufen – der Preis ist in beiden Fällen zu hoch.

Aber scheinbar ist Klatsch und Tratsch, eingedeutscht auch Gossip, unabdingbarer Teil des gesellschaftlichen Lebens. Versäumnisse hier sind fast so schlimm, als würde jemand feststellen, dass man nicht bei Facebook mitmacht.

Wie? Du hast noch nicht davon gehört, dass David Beckham sein Teil für eine Unterwäschewerbung hat vergrößern lassen? Die Wahrheit ist, doch, auch ich weiß über die Retusche Bescheid, denn selbst wenn ich TV und Zeitschriften meide, lese ich auf dem Weg zur Arbeit in der U-Bahn das Fahrgastfernsehen. Aber will ich das überhaupt wissen? Nein! Doch heutzutage ist das fast schon so schlimm, diese Informationen zu verweigern – genauso gut könnte ich behaupten, ich hätte keinen Schulabschluss. Das ist eine richtige Bildungslücke, immerhin handelt es sich hier um einen ganzen Wirtschaftszweig.

Unterm Strich einfach nur scheinheilig – wenn man montags unter dem Deckmantel des investigativen Journalismus‘ darüber berichtet, wie krank und schlecht der Magerwahn der Promis für sie selbst und das geblendete beeinflussbare Publikum ist; und dienstags im selben Magazin voll draufgehalten wird, wenn XY angeblich zu viele Hamburger gefuttert hat und eine Wölbung im Bauchbereich sichtbar wird, die mit bloßem Auge kaum erkennbar ist. Oh Gott, sie trägt Größe 36, wenn wir mal nicht kurz vor Armageddon stehen.

Ich bin wohl zu sehr wissenschaftlich veranlagt, als dass ich Berichte schauen könnte, ohne dass mir auffällt, dass sich dort innerhalb von fünfzehn Minuten drei Mal widersprochen wird, ohne dass es jemandem peinlich wäre, außer mir als Zuschauer. Wer hat denn eigentlich wann beschlossen, dass dummdreiste Boulevard-Reporter so tun dürfen, als seien sie der Nabel der Welt und hätten zu bestimmen, was und wer, wann und wie angesagt ist? Viel schlimmer noch, wann haben wir kapituliert und die Macht (speziell über uns selbst) an DIE abgegeben? Habe ich eine Wahl verpasst? Und was ist das überhaupt für ein Beruf? Nennen die sich überhaupt Reporter? Oder An-fremden-Leben-Schmarotzer? Hausfriedensbrecher oder Privatsphärezerstörer? Menschenwürdetreter? Und wer zum Teufel sind die armen Irren, die nichts lieber wollen, als getreten zu werden?

Auffällig in diesem Kontext ist ja auch die Diskrepanz zwischen eigenem Sein und dem, was man von anderen erwartet. Ist wohl dieselbe Störung, unter der auch die Kandidaten von Castingshows leiden, wenn sie dem Irrglauben unterliegen, singen zu können, dies aber nicht der Fall ist.

Oder unterliegen wir einfach alle dem zwanghaften Wunsch der Beurteilung, um uns selbst einordnen zu können? Ist nur der etwas Wert, der von einer Jury bewertet wurde? Hat nur der gelebt, der von anderen dabei beobachtet wird oder selbst beobachtet?

Mensch, bin ich froh, unter den lebenden Toten, so ganz ohne Zeugen und nur mit meinem inneren Parlament, das über meinen Hausfrieden bestimmt.