Montag, 16. April 2012

Nasser Regen

Bei dem schönen Wetter war der alte Greis nach dem Termin bei der weiblichen Ärztin am Vormittag gar nicht erst zurück in seine Wohnung gegangen, wo ihn ohnehin lediglich das Essensgericht vom Alte-Leute-Belieferungsdienst erwarten würde. Er wollte endlich mal wieder ein Einzelindividuum sein und als solches wahrgenommen werden. Nichts Seniorenteller! Heute gab es kaltes Eis in runden Kugeln, das durch manuelle Handarbeit gezaubert wurde. Herr Klein war jetzt ganz groß, nicht mehr der kleine Zwerg, der man ihm erlaubte zu sein. Er fühlte sich nach einer Ewigkeit wieder einmal wie ein großer Riese – ein unglaublich fruchtbares und belebendes Gefühl, längst vergessen geglaubt. In einer Demokratie (und nach 45 Jahren Arbeit) sei es ihm doch erlaubt trotz diverser Altersgebrechen unvernünftig zu essen. Was bleibt denn noch? Das Leben wird ja auch nicht schöner, wenn man es vernünftig lebt. Es macht auch keinen Spaß die Zeit hier zu verlängern, wenn man hier nichts machen (und essen darf), was Spaß macht (oder schmeckt). Schlussendlich wird er früher oder später eine tote Leiche sein. Gern auch früher, wenn es bis dahin zu leben lohnt. In diesem Sinne kaufte Herr Klein noch eine große Flasche alkoholischen Schnaps und ging stillschweigend in den Park, wo er im Stehen stand, als der weiße Schimmel an ihm vorbeigaloppierte. Bei diesem Anblick einer solch seltenen Ausnahmeerscheinung war es Herrn Klein ganz warm ums Herz und auch egal, dass er mittlerweile tropfte, weil es begonnen hatte nass zu regnen.