Montag, 19. September 2011

Alles im Kasten

Das Leben spielt sich in Kästen ab: Im Computer, im Fotoapparat, im Handy, im Fernseher und in anderen Automaten. Alles ist möglich: Partnersuche, Jobsuche, Persönlichkeitstests, Ferndiagnosen, Hellsehen, Bankgeschäfte, Einkäufe, Schriftverkehr, Sex. Und schlussendlich leben wir alle in einem Kasten – da, wo früher Häuser waren – zumindest sehen fast alle Neu- und Umbauten in Hamburg so aus: Beliebig kastig.
Gestern Miezi, Bello oder Hansi, heute Tamagotchi. Tagsüber bei Hertie an der Kasse und abends Großbauer oder Manager im eigenen Restaurant. Schöne neue Welt. Na gut, eingeschränkt schön, denn gerade die Bildtelefonie birgt doch einige Tücken: Nie mehr nackt telefonieren, weil man dran ging, als man gerade aus der Dusche kam, nie mehr dabei popeln und vor allem: Auch zu Hause immer gut aussehen! Und, daran ist nun nicht das Telefon schuld, aber auch nie mehr in Fotoalben blättern, die man wirklich anfassen kann. Heute gibt es Dia-Shows am Bildschirm. Ein Hoch auf Zeiten, als die Menschen noch Filme kauften und mit Bedacht Bilder schossen, weil die Kapazitäten begrenzt waren. Heute ist die Menschheit begrenzt oder lässt sich begrenzen. Alles, was sich nicht in Apps pressen lässt oder technisch erfassbar ist, ist nichts, wird abgeschafft und aussortiert, so wie die Schreibschrift in Schulen. Quasi ist man gar nicht als Mensch existent, wenn man kein Profil angelegt hat. Aber mal ehrlich, wer hat denn heute noch ein Format, das es sich lohnt, anzulegen? Wir unterliegen dem Drang, alles in Formen zu pressen und kategorisieren zu wollen. Soziale Netzwerke sind das beste Beispiel. Sobald man da etwas eingibt – nehmen wir mal an, ich hätte eine Vorliebe für grünkarierte Zwergkaninchen und wäre damit höchstwahrscheinlich der erste Mensch auf der Welt und vor mir wurde diese Vorliebe von keinem Mitglied dieses Netzwerkes offenkundig ausposaunt – so würde mein soziales Netzwerk sofort eine Seite für grünkarierte Zwergkaninchen anlegen, denn es könnte ja sein, dass noch mehr Leute daran Interesse haben und so würde man wieder an einem positiven – und jetzt kommt mein absolutes Lieblingswort – NUTZERERLEBNIS arbeiten und Menschen dieser Erde die Möglichkeit bieten, sich über dieses Interesse näher zu kommen... So sind auch meine anderen Interessen zu Gemeinschaftsseiten verkommen, ohne dass ich es gewollt hätte und dass es irgendeinen Sinn und Zweck erfüllt, da ich bisher die einzige mit diesen Interessen bin, wie z. B. Menschen mit eigenem Kopf und gegen den Strom, mein Fahrrad aus Karl-Marx-Stadt und Abenteuer und Kopfkino. Und ein noch viel größeres Versehen ist die Seite für Dinge mit Ecken und Kanten Abenteuer und Kopfkino Die wurde sofort angelegt, noch bevor ich einlenken und verbessern konnte, weil ich gemerkt hatte, dass zwei völlig verschiedene Sachen zu einer verschmolzen wurden. Und da machen die Leute sich Gedanken über die Gefahren von sozialen Netzwerken, die angeblich lediglich  in Isolation, Datenklau und Realitätsverlust bestehen, wo ich doch (ungewollt) den Beweis angetreten habe, dass die größte Gefahr in der Dummheit und Beschränktheit dieser Netzwerke liegt, denn die selber haben überhaupt nichts auf dem Kasten, sondern speichern einfach alles rein, sei es auch noch so dämlich oder gar nicht existent. Und was wird aus Dingen, die nicht speicherbar sind? Verlieren die gegen dreiste Dummheit, nur weil sie nicht in den Kasten passen? Im Netz der unbegrenzten Möglichkeiten… mmh, fühl ich mich doch sehr eingeschränkt. Immerhin sind Portale nur so nutzbar, wie es dem Anbieter Nutzen bringt. Und was ist eigentlich wichtiger? Wirklich da gewesen zu sein oder das Foto als Beweis, dass man dort war? Man postet ein Leben, das nur noch aus Posts besteht – ein bisschen wie TV-Sendungen, die nur über andere TV-Sendungen berichten. Wie oft wollte ich meinem Mitbewohner, der für Kästen lebt, schon zurufen: Claus, zieh den Stecker! Draußen scheint die Sonne, das wahnsinnig helle Ding oben an der Decke.
Hast du was zu sagen oder machst du Power Point? Kein Rechts, kein Links, kein realer Duft, nichts was die Sinne stimuliert und lebt. Nur der Wiedergabekasten, der schnurrt wie ein Kätzchen und vom Leben erzählt, das man selbst führen sollte. Ob Dorf oder Stadt – alles egal. Geht doch eh keiner mehr vor die Tür. Und lüften war gestern. Heute gibt es kleine Kästchen, die fiktive Frischluft absondern.
Und wie viel Zeit man damit verbringt, um all diese Kästen am Laufen zu halten. Immer schön am Ball bleiben. Dabei war ich schon immer unsportlich und das fetteste Kind im Sportunterricht. Es muss upgedatet und virengeprüft werden, gedownloadet, neu gekauft, installiert und angebaut. Was man plötzlich alles braucht, nur um nicht dem sozialen Ausschluss ausgeliefert zu sein. Noch vor ein paar Jahren hieß es, ich bräuchte dringend ein Handy, nun ist es ein Smartphone, dabei bin ich bis jetzt nicht mal smart genug, mein Handy zu bedienen und auch zu dumm, die Gebrauchsanleitung zu verstehen, da sie voll mit Wörtern ist, die wahrscheinlich nur Menschen kennen, die richtig gute Nutzererlebnisse haben. Und ich bin doch die, die in der realen Welt immer noch reale Erlebnisse hat, wie z. B. heute Morgen, als ich auf realem Laub ausgerutscht bin!